Richard Rohr

AN EINER POSITIVEN VISION FESTHALTEN

Hirnstudien haben gezeigt, dass wir uns auf Kosten einer optimistischen Sichtweise mit Vorliebe auf Probleme fokussieren. Das menschliche Hirn wickelt Ängste und Schwie­rigkeiten fest ein und dichtet das Sorgenpaket wie mit ei­nem Klettverschluss Marke Velco ab. Wir halten negative Erfahrungen noch lange nach dem Ereignis fest und ver­bringen Unmengen von Zeit mit der Spekulation darüber, was künftig schiefgehen könnte. Andererseits rutschen uns Positives, Dankbarkeit und schiere Glücksgefühle immer wieder weg wie Käse auf heißem Teflon. Studien wie die des Neurowissenschaftlers Rick Hanson zeigen, dass wir mindestens fünfzehn Sekunden lang bewusst bei einem positiven Gedanken oder Gefühl verweilen müssen, be­vor es in den Neuronen einen Abdruck hinterlässt. Diese Dynamik nennt man tatsächlich »Velcro/Teflon-Theorie«. Man könnte sagen, das Problem zieht uns mehr an als die Lösung.

Ich ermutige jede und jeden, mich nicht einfach blind heim Wort zu nehmen. Man beobachte einfach das eigene Gehirn und die eigenen Emotionen. Dabei wird man bald merken, dass es eine giftige Faszination für das Negative gibt, mag es sich dabei um eine Situation im Arbeitsleben, um miesen Klatsch und Tratsch, den du mitgehört hast, oder um eine bedauerliche Entwicklung im Leben einer Freundin oder eines Freundes handeln. Wirkliche Unab­hängigkeit von dieser Tendenz ist extrem selten, weil wir den größten Teil unserer Zeit von automatischen Reakti­onsweisen gesteuert werden. Deshalb besteht der einzige Weg, echte Spiritualität zu fördern, darin, die Freude an einem positiven Impuls und ein dankbares Herz bewusst zu trainieren. Und die Vorteile sind mit Händen zu grei­fen. Indem wir unseren bewussten Entscheidungen konsequent folgen, können wir unsere Reaktionen neu mit Liebe, Vertrauen und Geduld verdrahten. Die Hirnwissenschaft nennt das »Neuroplastizität«. Auf diese Weise vergrößern wir unsere Freiheitsfähigkeit, und das ist ganz gewiss der Herzschlag jeder echten Spiritualität.

Aus: Alles trägt den einen Namen. Die Wiederentdeckung des universalen Christus, S. 83-84